Diesen Sonntag hätte der 2018 viel zu früh verstorbene, bekannte marxistische Denker Domenico Losurdo seinen 80. Geburtstag gefeiert.
In einem seiner letzten Bücher („Der Klassenkampf oder die Wiederkehr des Verdrängten“, Papy-Rossa-Verlag 2016) hat der ebenso ungemein produktive wie um ein originäres Marxismus-Verständnis fernab scholastischer Exegetik bemühte italienische Philosoph allen in der Tradition Marx-Lenin Stehenden noch eine instruktive Untersuchung dazu, die Klassenkämpfe in ihrer ganzen Vielschichtigkeit zu betrachten, hinterlassen. Da wir aus seinen Besuchen in Österreich wissen, wie wichtig es ihm war, gerade auch dieses Buch noch fertigzubringen, gedenken wir ihm mit einem (gekürzten) (Kapitel-)Auszug daraus.
Die Verstümmelung des Klassenkampfs
In ihrer reifsten Ausformulierung stellt sich die Theorie des Klassenkampfs als eine allgemeine Theorie des gesellschaftlichen Konflikts dar, die gleichzeitig eine Vielfalt der Kämpfe um Anerkennung widerspiegelt und stimuliert. Aber es ist nicht leicht, die Höhen dieses Standpunkts zu erklimmen und auf diesem Niveau zu verbleiben. Nicht wenige Male haben Persönlichkeiten oder Bewegungen, die sich an einer Front bewährten, den anderen Fronten zu geringe Aufmerksamkeit zukommen lassen oder haben gar mit Verachtung auf sie geblickt. Der französische Ökonom und Soziologe Pierre-Joseph Proudhon, der sich mit aller Kraft der sozialen Frage zuwandte, stempelte die beginnende feministische Bewegung als reine »Pornokratie« ab und zeigte keinerlei Sympathie für die unterdrückten Nationen, die bestrebt waren, das ihnen auferlegte Joch der zaristischen Autokratie abzuschütteln. Die Verwicklungen der Klassenwidersprüche vermochte er nicht zu verstehen: Der von der Bourgeoisie ausgebeutete Proletarier kann an der »ersten Klassenunterdrückung« zum Schaden der Frau beteiligt sein; der adelige polnische Unterdrücker seiner Leibeigenen kann unter Umständen am Kampf gegen die nationale Unterdrückung beteiligt sein.
Kokettieren mit der Macht
Auch hinsichtlich des Klassenkampfs in Frankreich, bei dem die subalternen Klassen den herrschenden Privilegien und der herrschenden Macht gegenüberstanden, brachte Proudhon eine sehr eingeschränkte Sicht zum Ausdruck: In seinen Augen war der Protagonist des Staatsstreichs vom 18. Brumaire, wenn auch mit Widersprüchen behaftet, eben nicht der Erbe des Massakers an den Pariser Arbeitern vom Juni 1848. Proudhon schien bisweilen so fasziniert von Louis Bonaparte, dass er unmittelbar nach dessen Staatsstreich einem Freund schrieb und in sein Tagebuch notierte: »Ich habe Grund zu glauben, dass man mich im Élysée-Palast mit Wohlwollen betrachtet […]. Zu diesem Zeitpunkt gehe ich davon aus, dass sich binnen zwei oder drei Monaten die Fahne der sozialen Republik entrollen wird, nicht mehr und nicht weniger. Die Gelegenheit ist großartig, der Erfolg beinahe sicher«. »Man hört sagen, dass mehr als einmal der Wunsch geäußert wurde, sich an mich zu wenden, und dass man nur mit großer Mühe davon abgehalten werden konnte«. Verächtlich war das Urteil von Marx, der die beiden »Gemeinheiten« Proudhons benannte: »seine Schrift über den ›Coup d’état‹, worin er mit L. Bonaparte kokettiert, ihn in der Tat den französischen Arbeitern mundgerecht zu machen strebt, und seine letzte Schrift gegen Polen, worin er dem Zaren zur Ehre kretinartigen Zynismus treibt« (Marx-Engels-Werke, Band 16, S. 31; im folgenden: MEW).
In jedem Falle nahm der französische Autor, dem immerhin das Verdienst zukommt, das bürgerliche Privateigentum in Frage gestellt zu haben, eine desorientierende Rolle ein, indem er der Arbeiterklasse die »Abstention von politischer Bewegung«, vom Kampf gegen den Bonapartismus und gegen die nationale Unterdrückung sowie darüber hinaus vom Kampf für die Frauenemanzipation predigte (MEW, 33: 329). Die binäre Lesart des sozialen Konflikts, die nur einen einzigen Widerspruch erkennt (jener, bei dem die Reichen und die Armen einander gegenüberstehen), lässt ein Verständnis derjenigen Emanzipationsbewegungen nicht zu, deren soziale Basis nicht ausschließlich aus Armen zusammengesetzt ist. Die alleinige Aufmerksamkeit für die soziale Frage in Frankreich hat sich in ein Gefängnis verwandelt, dessen Kennzeichen der kleinlichste Korporatismus ist.
Zehrte Proudhon von Illusionen über Louis Bonaparte, so kultivierte Lassalle die seinen gegenüber Bismarck und hoffte, seine Sache könne dadurch gewinnen. In seiner Polemik gegen den Standpunkt vom Staate als eines »Nachtwächters« des Eigentums und der öffentlichen Ordnung, gleichgültig gegenüber den erbärmlichen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse, nahm Lassalle in erster Linie oder vielmehr ausschließlich die liberale Bourgeoisie ins Visier. Marx hatte Recht darin, ihn für »seine Allianz mit den absolutistischen und feudalen Gegnern wider die Bourgeoisie« (MEW, 19: 23) zu kritisieren, ihm das Kokettieren mit einem Mann vorzuhalten, der einige Zeit später unbarmherzige antisozialistische (und arbeiterfeindliche) Gesetze vom Stapel lassen sollte.
Man kann an dieser Stelle die bereits für Proudhon angestellten Überlegungen wiederholen: Auch im Fall des großen intellektuellen und charismatischen deutschen Agitators geht die Verpflichtung gegenüber der sozialen Frage, genauer, der Versuch, der herrschenden Macht einige hübsche Zugeständnisse in Richtung eines Sozialstaats abzutrotzen, Hand in Hand mit einer Achtlosigkeit für die anderen Fronten des Klassenkampfs und mit einem bornierten ökonomistischen Blick auf den Kampf der Arbeiterklasse.
Lassalle hatte die historische Bedeutung des Kampfs für die Aufhebung der Sklaverei in den USA nicht verstanden. Und was Frankreich angeht, so gab er vereinzelte Erklärungen zum Staatsstreich Louis Bonapartes ab. An die Macht gelangt, hatte dieser veranlasst, das Zensuswahlrecht zu beseitigen, das schon die Februarrevolution 1848 abgeschafft hatte, aber unterdessen von der liberalen Bourgeoisie per Gesetz vom 30. Mai 1850 wieder eingeführt worden war. Unter den Bedingungen der bonapartistischen Diktatur bedeutete die Rückkehr zum allgemeinen Wahlrecht für Männer vor allem für die ärmsten Volksmassen allerdings lediglich die Möglichkeit, an plebiszitären Akklamationen des Führers teilzunehmen. Das aber waren nicht die Argumente Lassalles. Für ihn hatte Bonaparte nicht die »Republik« niedergerissen, sondern lediglich »die Bourgeois-Republik, welche das Gepräge der Bourgeoisie, die Herrschaft des Kapitals, auch dem republikanisierten Staate aufdrücken wollte«.
Analoge Tendenzen wie die für Frankreich und Deutschland beobachteten traten auch in anderen Ländern in Erscheinung. Engels kritisierte die intellektuellen Zirkel in Russland, die gerne ihr Land (in dem Formen des Gemeineigentums noch Bestand hatten) positiv gegenüber Frankreich und England (wo das bürgerliche Privateigentum und die gesellschaftliche Polarisierung omnipräsent waren) herausstrichen. Eine Denkrichtung, die so argumentierte: »Die Einführung einer bessern Gesellschaftsordnung wird in Westeuropa überaus erschwert durch die grenzenlose Erweiterung der Rechte der einzelnen Persönlichkeit […] man verzichtet nicht so leicht auch nur auf einen kleinen Teil dessen, was man gewohnt ist zu genießen; in Westeuropa ist der einzelne schon gewöhnt an die Unbegrenztheit der Privatrechte. […] Im Westen ist eine beßre Ordnung der ökonomischen Verhältnisse mit Opfern verbunden und daher schwer herzustellen« (MEW, 22: 422 u. 425).
Eine solche Sichtweise war dem russischen Philosophen Alexander I. Herzen nicht fremd, demzufolge es »eine politische Frage« gegeben haben mag, aber »die ›soziale Frage‹ ist für Russland bereits gelöst« (MEW, 22: 422). Es handelt sich hierbei um eine populistische Strömung, die, wie Engels beobachtete, es schätzte, »die russischen Bauern als die wahren Träger des Sozialismus, als geborene Kommunisten darzustellen gegenüber den Arbeitern des alternden, verfaulten europäischen Westens, die sich den Sozialismus erst künstlich anquälen müssten. Von Herzen kam diese Kenntnis zu Bakunin und von Bakunin zu Herrn Tkatschow«, nach dessen Auffassung das russische Volk »instinktiv, traditionell Kommunist« sei (MEW, 18: 562). Deutlich unterbewertet erscheint hier die Aufgabe, ein Ancien Régime zu beseitigen, das sich durch die Unterdrückung der Nationen und der Frauen wie auch der Arbeiterklasse auszeichnete. Und einmal mehr ist der Klassenkampf verstümmelt, und das, was von ihm übrigbleibt, auch hinsichtlich des Engagements zugunsten der subalternen Klassen, ist ausgesprochen dürftig.
»Imperialsozialismus«
Die Verstümmelung des Klassenkampfs kann auch in anderer Weise erfolgen, nämlich dann, wenn gegenüber dem Schicksal, das der Kapitalismus über die Kolonialvölker oder die ehemals kolonisierten Völker verhängt, die Augen verschlossen werden. Von Anfang an hob Marx, indem er auf die »Millionen von Arbeitern« hinwies, die in Indien umkommen mussten, damit die Kapitalisten den englischen Arbeitern bescheidene Zugeständnisse machten, hervor, wie sehr die koloniale Frage mit der sozialen in den kapitalistischen Metropolen verschränkt ist. Gleichwohl handelte es sich dabei um einen schon auf intellektueller Ebene anspruchsvollen Ansatz. In krassem Gegensatz zu Proudhon war der Frühsozialist Fourier ein bedeutender Verfechter der Frauenemanzipation. Es geschah indes, dass just in den Jahren, in denen Marx und Engels mit jugendlicher Emphase ihre Hoffnungen in das Proletariat als Protagonisten einer universellen Emanzipation legten, Anhänger Fouriers (und Saint-Simons) sich vornahmen, eine mehr oder weniger sozialistische Gemeinschaft in Algerien in Landstrichen aufzubauen, die den Arabern in einem brutalen und streckenweise genozidalen Krieg entrissen werden sollten.
Später blickte der utopische Sozialismus dann zumeist mit Überheblichkeit oder Misstrauen auf die abolitionistische Bewegung. Nach der Februarrevolution von 1848 schritten der Abgeordnete der Nationalversammlung für Martinique, Victor Schoelcher, und die neue französische Regierung zur endgültigen Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien, nachdem diese beinahe ein halbes Jahrhundert zuvor von Napoleon wieder eingeführt worden war, der damit die Errungenschaften der von Toussaint Louverture angeführten Revolution der Schwarzen in Saint Domingue und die vom Jakobinerkonvent erlassenen Emanzipationsgesetze rückgängig gemacht hatte. Etienne Cabet nun, ein prominenter Vertreter des französischen utopischen Sozialismus, machte Schoelcher den Vorwurf, sich auf ein beschränktes Ziel zu konzentrieren, nämlich das der Emanzipation der schwarzen Sklaven, anstatt sich der allgemeinen Emanzipation der Arbeit zu widmen.
Mit Blick auf den Ausbruch des Sezessionskrieges in den USA muss sich Lassalle ganz ähnlich verhalten haben. Zumindest einem Brief von Marx an Engels vom 30. Juli 1862 nach zu urteilen, in dem ersterer Lassalle für dessen Haltung zu den gewaltigen Vorgängen in den USA kritisierte: »As to America, so ist das, sagt er, ganz uninteressant. Die Yankees haben keine ›Ideen‹. Die ›individuelle Freiheit‹ ist nur eine ›negative Idee‹ etc. und was dieses alten verkommenen Spekulationskehrichts mehr ist« (MEW, 30: 258). Für die beiden hier zitierten Exponenten des Sozialismus lenkte demnach das Streben nach Abschaffung der Sklaverei in den Kolonien und in der nordamerikanischen Republik von der brennenden sozialen Frage in den kapitalistischen Metropolen ab. Auf dieses epische Ereignis, das der Sezessionskrieg in den Augen von Marx war, nahm Lassalle bestenfalls verstreut und beschränkt Bezug. Die von der Union gegenüber dem sezessionistischen Süden erhobene Blockade und der darauf folgende Baumwollmangel, den die englische Textilindustrie mit ihrem Zentrum Lancashire litt, straften die englischen Arbeiter mit Arbeitslosigkeit, so dass für sie das Risiko bestand, »nach den Kolonien auswandern« zu müssen. Es handele sich um einen »der blutigsten und greuelvollsten Kriege […], welche die Geschichte jemals gesehen hat«. Auf den Inhalt des Bürgerkriegs ging Lassalle dabei nicht ein. Schlimmer noch: Anstelle der Sklaverei verurteilte er den »Föderalismus« und die den Staaten zugestandene Autonomie: Die hätten die »Vertiefung in die Partikularinteressen« und den gegenseitigen »Haß« der Kontrahenten provoziert. Damit stellt er die Kriegsparteien auf ein und dieselbe Stufe.
Die ökonomistischen und korporatistischen Unzulänglichkeiten, die dieser oder jener Vertreter der sozialistischen Arbeiterbewegung an den Tag legte, sind von den Unternehmungen der herrschenden Klasse nicht zu trennen, deren Wirkung Marx und Engels allerdings unterschätzten. Nach der Einordnung des »Jungen Englands« in das von der »Aristokratie« inszenierte »Schauspiel« eines »feudalen Sozialismus« schlussfolgert das Manifest der Kommunistischen Partei: »Den proletarischen Bettelsack schwenkten sie als Fahne in der Hand, um das Volk hinter sich her zu versammeln. Sooft es ihnen aber folgte, erblickte es auf ihrem Hintern die alten feudalen Wappen und verlief sich mit lautem und unehrerbietigem Gelächter« (MEW, 4: 482 f). Der historisch wichtigste Anhänger des Jungen Englands war der konservative britische Staatsmann Benjamin Disraeli. Bei ihm (wie auch bei der Organisation, der er angehörte) lassen sich transfigurierte Elemente der Ideologie des Ancien Régime auffinden, er kann aber zugleich als der Erfinder eines »Sozialismus« betrachtet werden, der besser mit dem Attribut »imperial« zu beschreiben ist als mit dem Attribut »feudal«. Es handelte sich um einen »Sozialismus«, der keineswegs den unmittelbaren Spott der Volksklassen hervorrief, sondern letztere oftmals betörte und umgarnte.
Zur selben Zeit, als die »Heilige Familie« und »Die deutsche Ideologie« den irreduziblen Antagonismus zwischen Proletariat und Bourgeoisie verkündeten, veröffentlichte Disraeli einen Roman, der in gewisser Hinsicht das gleiche Thema verhandelte. Wir lernen darin einen Agitator des Chartismus kennen, der hartnäckig die bestehende Ordnung anfechtet und die Wirklichkeit »zweier Nationen« (»die Reichen und die Armen«) beklagt, die ein zerrissenes England verursache. Im Manifest werden die »Chartisten« zu den »bereits konstituierten Arbeiterparteien« gezählt (MEW, 4: 492), und der fragliche Agitator scheint mit dem revolutionären Bewusstsein ausgestattet, das Marx und Engels dem Proletariat attestierten. Interessant ist, welche Antwort Disraeli darauf gab: Es habe keinen Sinn, von »zwei Nationen« zu sprechen. Das Band der »Brüderlichkeit« vereine vielmehr »das privilegierte und segensreiche englische Volk«.
Die englische Aristokratie mäßigt ihre kastenhafte, bisweilen rassistische Arroganz, die traditionell gegenüber den Volksklassen in Anschlag gebracht wurde. Hier gebärdet sich eine »brüderliche«, englische, nationale Gemeinschaft mit höchster aristokratischer Verachtung gegenüber anderen Nationen und vor allem gegenüber den Kolonialvölkern. Mit anderen Worten: Die Rassisierung, deren Opfer bisher die Volksklassen waren, wird, anstatt zu verschwinden, bloß verlagert. Disraeli, der in der Folge zum maßgeblichen Repräsentanten des Second Reform Act (die erstmalige Erweiterung der politischen Rechte über den Kreis der Aristokratie und der Bourgeoisie hinaus) und einer Reihe sozialer Reformen avancierte, war nicht ohne Grund zur selben Zeit ein Verfechter des Imperialismus, ein Verfechter des Rechts der »überlegenen« Rassen, die »minderwertigen« zu unterwerfen. Auf diese Weise beabsichtigte der englische Staatsmann, die soziale Frage und den Klassenkampf im eigenen Land zu entschärfen. »Ich behaupte mit Zuversicht, dass die englischen Arbeiter in ihrer großen Mehrheit vor allem Engländer sind. Sie sind für die Bewahrung des Königreichs und des Empires und stolz, Untertanen unseres Souveräns und Angehörige dieses Empires zu sein«. Es sind die Jahre, in denen Proudhon in Frankreich nach Einschätzung von Marx der »Sozialist der Kaiserzeit« wurde (MEW, 32: 443).
Eine neue politische Strömung betrat die Bühne. Ein deutscher Beobachter des Geschehens bezeichnete sie zum Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur mit Blick auf Disraeli, sondern auch auf Napoleon III. und Bismarck als »imperialistische Sozialpolitik« bzw. als »Imperialsozialismus«. Wie schon von Marx beleuchtet, wurde dabei die Bedeutung einer Verschränkung von kolonialer und sozialer Frage erkannt und ins Zentrum eines neuen politischen Projekts gerückt, das einen Handel anbot: Im Tausch für begrenzte soziale Reformen, die seitens der herrschende Klassen gewährt werden, sind die Massen bzw. das Proletariat zur patriotischen Loyalität und zur Unterstützung der kolonialen Expansion aufgerufen.
»Klasse gegen Klasse«?
Diesen Tauschhandel haben die Autoren der Theorie des Klassenkampfs entschieden zurückgewiesen. Gleichwohl bleibt ein Problem ungelöst. Bereits eine Phase der relativ friedlichen Entwicklung, aber umso mehr eine große historische Krise, sind durch die Verschränkung vielfältiger Widersprüche und verschiedener Formen des Klassenkampfs gekennzeichnet: Zwischen ihnen gibt es keine prästabilierte Harmonie. Ein angemessenes Verständnis einer konkreten historischen Situation setzt die Überwindung der gewohnten binären Logik voraus, die alles von einem einzigen Widerspruch ausgehend zu erklären behauptet. Bei Marx und Engels stellte sich diese Überwindung als ein mühseliges und letztlich unvollendetes Unterfangen dar.
»Die Lage der arbeitenden Klassen in England«, veröffentlicht 1845, klingt mit einer Beschwörung der bevorstehenden, ja bereits begonnenen Revolution der »Arbeiter« gegen die »Bourgeoisie« aus, »des ganz offnen, direkten Krieges der Armen gegen die Reichen«, der »Hütten« gegen die »Paläste« (MEW, 2: 505 f). Die nationale Frage in Irland, auf die Engels ebenfalls mit verstärkter Aufmerksamkeit hinwies, schien dabei nun allerdings keine Rolle für eine Konfrontation zu spielen, die sich bereits am Horizont abzeichnete. Etwa zwei Jahre später gab Marx im »Elend der Philosophie« eine Art Parole aus: »der Kampf von Klasse gegen Klasse« (MEW, 4: 181). Die Grundlage dieser Losung wurde im Manifest der Kommunistischen Partei erklärt: »Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat« (MEW, 4: 463).
In den hier zitierten Jugendschriften entspringt die neue Revolution (die berufen ist, nicht nur das Proletariat, sondern die gesamte Menschheit zu befreien) in letzter Instanz einem einzigen Widerspruch, jenem der Entgegensetzung von Bourgeoisie und Arbeiterklasse; und diese neue Revolution ist aufgrund des fortschreitenden und unaufhaltsamen Anwachsens des Arbeiteraufgebots und der mit ihm Verbundenen unausweichlich. Relevante Unterschiede von Land zu Land existieren dabei nicht, und die nationalen Grenzen scheinen an Bedeutung zu verlieren.
Diese Vision findet sich am eloquentesten in einer Rede von Engels vom 29. November 1847 ausgedrückt, gelegentlich einer in London abgehaltenen Demonstration für die Unabhängigkeit Polens: In England werden »durch die moderne Industrie, durch die Maschinen alle unterdrückten Klassen in eine einzige große Klasse mit gemeinsamen Interessen in die Klasse des Proletariats zusammengeworfen«, mehr denn je vereint dank »der Nivellierung der Lebenslage aller Arbeiter«. Auf »der entgegengesetzten Seite« sind »alle Klassen von Unterdrückern ebenfalls in eine einzige Klasse, die Bourgeoisie, vereinigt worden«. So sei »der Kampf vereinfacht, und so wird er mit einem einzigen großen Schlage entschieden werden können«. Und die internationale Lage berücksichtigend: Die Maschinerie habe in allen Ländern »die Lage aller Arbeiter gleichgemacht und macht sie täglich mehr und mehr gleich; in allen diesen Ländern haben die Arbeiter jetzt dasselbe Interesse, nämlich die Klasse, die sie unterdrückt, die Bourgeoisie, zu stürzen«. Und schlussfolgernd: »Weil die Lage der Arbeiter aller Länder dieselbe, weil ihre Interessen dieselben, ihre Feinde dieselben sind, darum müssen sie auch zusammen kämpfen, darum müssen sie der Verbrüderung der Bourgeois aller Völker eine Verbrüderung der Arbeiter aller Völker entgegenstellen« (MEW, 4: 417 f). Nicht nur, dass sich hier alles um einen einzigen Widerspruch dreht, auch die Politik, die nationalen Besonderheiten und die ideologischen Faktoren scheinen keine Rolle zu spielen.
Diese binäre Logik des sozialen Konflikts ist nicht auf Engels und auch nicht exklusiv auf die Frühphase beschränkt. Es reicht, auf einen berühmten Ausschnitt aus dem ersten Band des Kapitals hinzuweisen: »Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert« (MEW, 23: 791).
Vier Jahre später, zog Marx in seiner Schlussfolgerung von »Der Bürgerkrieg in Frankreich« Bilanz: Dem »Jubelfest der kosmopolitischen Prellerei« im Zweiten Kaisertum entsprach bzw. setzte sich ein authentischer Internationalismus entgegen. Die Pariser Kommune war »als eine Arbeiterregierung, als der kühne Vorkämpfer der Befreiung der Arbeit, im vollen Sinn des Worts international«. Nicht umsonst ließ die Kommune »alle Fremden zu zu der Ehre, für eine unsterbliche Sache zu fallen« (MEW, 17: 346).
Diese Sache wird umso klarer angesichts der vollzogenen Repression seitens der französischen Bourgeoisie in Komplizenschaft mit dem preußischen Heer und der Hetzjagd auf alle Aktivisten der Internationale, die in ganz Europa von der herrschenden Klasse entfesselt wurde: »Während die europäischen Regierungen so, vor Paris, den internationalen Charakter der Klassenherrschaft bestätigen, schreien sie Zeter über die Internationale Arbeiterassoziation – die internationale Gegenorganisation der Arbeit gegen die weltbürgerliche Verschwörung des Kapitals – als Hauptquelle alles dieses Unheils« (MEW, 17: 361).
Die These von der »weltbürgerlichen Verschwörung des Kapitals« hat den Fehler, die zwischen den verschiedenen Bourgeoisien bestehende Konkurrenz und die Konflikte zu unterschlagen, auf die indes schon das Manifest aufmerksam gemacht hatte. Zudem werden hier vorläufige Situationen von kurzer Dauer verabsolutiert. Der erste Band des Kapitals erinnert daran, dass »die Pariser Juni-Insurrektion und ihre blutige Erstickung, wie im kontinentalen Europa so in England, alle Fraktionen der herrschenden Klassen« vereinigt hatte (MEW, 23: 302). Diese Feststellung stammt aus dem Jahr 1867. Drei Jahre später begann der französisch-preußische Krieg, aus dem die Pariser Kommune hervorging, die wiederum niedergeschlagen wurde, weil die ehemaligen Feinde ein Bündnis eingingen. Dabei handelte es sich jedoch um ein Bündnis, das sehr schnell dem chauvinistischen Hass wich, dazu bestimmt, in einen »industriellen Vernichtungskrieg der Nationen untereinander«, besser gesagt in den Ersten Weltkrieg zu münden. Aus dem Kampf gegen dieses Gemetzel ging die erste Revolution, die sich auf Marx und Engels berief, hervor. Und auf der Woge dieser Revolution entwickelte sich weltweit eine antikolonialistische Bewegung, die sich gegen die »Ausbeutung der einen Nation durch eine andere« richtete, von der das Manifest und andere Texte jener Zeit sprachen.
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