Kein Markt wie jeder andere

Mit über einer halben Million Arbeitsloser verzeichnen wir ein skandalöses Rekordhoch in der zweiten Republik. Dem ökonomischen Kerndogma der „Selbstregulierungskräfte“ des von „äußeren Zwängen möglichst befreiten“ freien Marktes über den des Markt-Preis-Mechanismus zufolge wären daran auch noch die Gewerkschaften, sozialen Transferleistungen und vermeintliche Überregulierungen schuld. Recht auf Leben - Recht auf Arbeit

Die reale kapitalistische Wirtschaft funktioniert aber nicht nur anders als in den schnöden Lehrbuchvorstellungen angenommen wird; der Arbeitsmarkt ist entgegen dem Selbstregulierungs-Credo zudem kein Markt wie jeder andere. Die Sichtweise eines möglichst durch den Markt-Preis-Mechanismus gesteuerten Arbeitsmarktes ignoriert bzw. verkennt, dass die Ware Arbeitskraft kein Gut wie jedes andere ist, da das Arbeitsvermögen eines Menschen von ihrem Träger, also ihm selbst in seiner leiblichen Hülle, nicht zu trennen ist. Dahingehend unterscheidet sich der Arbeitsmarkt eben fundamental von anderen Märkten, was wiederum ein untypisches bis konträres Marktverhalten nach sich zieht. So wäre der vorherrschenden ökonomischen Mainstream-Ideologie nach zu erwarten, dass bei sinkenden Preisen für die Ware Arbeitskraft (sprich: sinkendem Lohn bzw. Lohnniveau), das (Arbeitskraft-)Angebot zurückgeht. Tatsächlich ist jedoch das (genaue) Gegenteil dieser Modellvorstellung der Fall. Bei sinkenden Löhnen resp. Reallohnverlusten müssen die Werktätigen (bzw. Arbeitnehmerhaushalte) versuchen, ihr Arbeitsvolumen auf dem Arbeitsmarkt auszuweiten, mehr Arbeitskraft am Arbeitsmarkt anzubieten, um ihren Lebensunterhalt bestreiten bzw. ihr Einkommensniveau erhalten zu können. Sie machen Überstunden oder suchen sich einen Zweit- oder Drittjob, der Doppelerwerb in den Familien nimmt zu und die Kinder müssen vielfach früher zu arbeiten beginnen, anstatt umfassende Ausbildungen zu absolvieren. Denn für all jene, die nicht über Kapital verfügen sind die Arbeitsentgelte die grundsätzlich einzige Quelle der Deckung ihrer Lebensunterhalte (durch Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder Mindestsicherung lediglich notdürftig sekundär flankiert). Dergestalt auf den Verkauf ihres Arbeitsvermögens existentiell angewiesen, und weil ihre Arbeitskraft von ihnen als Träger des Arbeitsvermögens zugleich nicht zu trennen ist, können sich Werktätige denn auch nicht einfach wie andere Warenbesitzer vom Markt zurückziehen bzw. ihr Arbeitskraft-Angebot kurzfristig verlagern, wenn der Preis für ihre Ware nicht stimmt. Während Unternehmer die Möglichkeit haben, ihre Waren (vorübergehend) vom Markt zurückzuziehen, sprich: im Falle eines sog. „nicht-marktgerechten Preises“ nicht anzubieten und zurückzuhalten oder ihr Angebot kurzfristig räumlich zu verlagern (ihre Faktoren also zeitlich flexibel und räumlich mobil einzusetzen), besteht für die Anbieter von Arbeitskraft ein faktischer Angebotszwang. Infolge dieser dem Arbeitsmarkt eingeschriebenen Verfasstheit, funktioniert er denn auch nicht gemäß der angeblich „allgemeingültigen Marktgesetze“ und ist durch eine strukturelle Dominanz der Unternehmer gegenüber den (von ihnen) abhängigen Beschäftigten und Arbeitslosen gekennzeichnet. Ein Umstand, dem zugleich die beständige Gefahr der Entwertung der Ware Arbeitskraft, sprich: sinkenden Lohnniveaus, innewohnt.

Die Unabdingbarkeit des Kollektiv-Politischen

Deswegen schlossen sich die Werktätigen denn auch schon frühzeitig in Gewerkschaften zusammen, um die (allem voran:Mindest-)Höhe des Lohns und die allgemeinen Arbeitsbedingungen in Gestalt von Kollektivverträgen sowie gesetzlichen Regelungen im organisierten gewerkschaftspolitischen Kampf und damit (nach Maßgabe der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse) in Form bewusst gestalteter klassenpolitischer Beziehungen festzulegen. Eine organisierte gesellschaftliche Auseinandersetzung, welche zwar die dem Kapitalismus immanente marktmäßige Bildung der Löhne nicht aufhebt, aber involviert, dass sich die Lohnhöhe nicht mehr alleine über Marktbeziehungen und individuelle Arbeitsvertrags-Vereinbarungen bestimmt, sondern im gesellschaftlichen Lohnstreit durchsetzt. Ergänzt um errungene soziale Absicherungen im Falle von Arbeitslosigkeit und um politische Regulierungen vielfältiger Art.

Wider dem marktdogmatischen Frontalangriff

In einer Melange teils reiner Kapital-Apologetik, teils völligem Fehlverständnis wirklicher Marktprozesse, trompeten die neoliberalen Ideologen jedoch mehr und mehr zum Frontalangriff: Die angeblich überhöhten sozialen Absicherungen, politischen „Überregulierungen“ sowie die Lohnfestsetzungen über Kollektivverträge verhinderten sog. „marktkonforme Löhne“ und so die vermeintliche Selbstregulierung des Arbeitsmarktes zum „allgemein Besten“. Hinter dem Begriff des „marktkonformen Lohns“ verbirgt sich allerdings zunächst, wie unschwer zu erkennen, nichts weniger denn eine offensive Lohnsenkungs- und Niedriglohnstrategie. Dem Nichtfunktionieren des Arbeitsmarktes entlang der angeblich „allgemeingültigen Marktgesetze“ würde aber – einmal abgesehen seines sozialreaktionären Charakters – selbst ein derartiges lohnpolitisches und soziales Tabula-rasa keine Abhilfe schaffen. Ein sinkendes Lohnniveau, verringerte soziale Absicherungen und ein verschärfter Arbeitszwang würden die Werktätigen vielmehr zwingen, ihr Arbeitskraft-Angebot nochmals auf Teufel komm raus auszuweiten und die strukturelle Marktdominanz noch drastischer zu Gunsten der Unternehmer verschieben.

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